Salon: Musisch-literarische Kultur

Salon: Musisch-literarische Kultur
Salon: Musisch-literarische Kultur
 
Heinrich IV. gab Frankreich nach den Religionskriegen mit dem Toleranzedikt von Nantes 1598 den Frieden im Innern wieder. Bis zu seiner Ermordung 1610 konnte er die politische Situation im Land einigermaßen stabilisieren und auch die wirtschaftliche Lage verbessern. Er war »der gute König«, der aus diplomatischen Gründen mehrfach den Glauben wechselte, dem »Paris eine Messe wert« war. Aber an seinem Hof herrschte ein rauer Ton, die Umgangsformen waren noch eher von den Erfahrungen des Schlachtfeldes geprägt als von denen einer zivilisierten Geselligkeit. Eine berühmte Anekdote schildert, wie der König im Louvre eine eigenwillige Form des höfischen Zeremoniells vorführte, als er in Gegenwart des spanischen Botschafters auf allen Vieren mit seinen Kindern spielte.
 
Es war diese Ungeschliffenheit, gegen die sich Catherine de Vivonne, die spätere Marquise de Rambouillet, zum einen wendete, da der Hof ihrer Meinung nach so nicht mehr seiner sozialen Vorbildfunktion nachkam. Zum anderen aber war die junge Frau von zarter Gesundheit; die großen höfischen Festlichkeiten erschöpften sie rasch, sie suchte die Geselligkeit im kleineren Rahmen. Öffentliches Engagement und individuelle Notwendigkeit standen also Pate bei der Begründung des ersten bedeutenden musisch-literarischen Salons in Frankreich, den die Marquise, italienischen Anregungen folgend, im Hôtel de Rambouillet einrichtete und in den sie von etwa 1613 an bis 1650 regelmäßig Künstler, Schriftsteller, Politiker und Gelehrte einlud. Das Hôtel de Rambouillet lag in der Rue Saint-Thomas-du-Louvre, also in unmittelbarer Nähe des königlichen Schlosses, und wurde wohl ab 1604 im Wesentlichen nach den Plänen der Hausherrin neu errichtet: Das Treppenhaus wurde zu Gunsten weiter Zimmerfluchten in einen Seitenteil verlegt; große Fenster gaben den Räumen viel Licht und ließen sich zur Gartenseite hin öffnen, um der Natur Einlass zu gewähren. Festlicher und zugleich intimer Raum für Gespräche, Spiele und Begegnungen war die »Chambre bleue«, das blaue Zimmer, so genannt nach der Farbe der kostbaren flämischen Wandteppiche, die es schmückten.
 
In ihrem Roman »Der große Cyrus« beschreibt Mademoiselle de Scudéry das Innere des Hôtel de Rambouillet: Alles sei prachtvoll und einzigartig, gekennzeichnet von jener Regelmäßigkeit und Ordnung, die das Jahrhundert Descartes' liebte, kostbare Leuchter und herrliche Kunstgegenstände verraten den erlesenen Geschmack der Marquise, die das Palais mit ihrer vollendeten Persönlichkeit beseelt. Diese äußere Anmut der Marquise fließe aus der Ruhe ihrer Seele, die alle Leidenschaften mit Vernunft beherrsche. Sie sei darüber hinaus großzügig, vielsprachig und überaus gebildet, verhülle den Reichtum ihrer Kenntnisse hinter Zurückhaltung und Bescheidenheit. Aus dem Porträt wird die Faszination deutlich, die die Herrin von Rambouillet auf ihre Zeitgenossen ausübte, eine Faszination, die gewiss auch die jahrzehntelange Anziehungskraft begründet, die von ihrem Salon ausging.
 
Auch wenn man die meisten großen Namen der französischen Literatur des 17. Jahrhunderts vergeblich unter den Gästen des Hôtel de Rambouillet sucht, so findet man doch durchweg respektable Autoren, die sich gemeinsam mit der Hausherrin um geistvolle, verfeinerte Formen der Unterhaltung bemühten: so etwa François de Malherbe, den »Gesetzgeber des Parnass«, der die französische Dichtung durch rigorose Konzentration auf Fragen der Technik und der Sprache erneuerte und dem gleichwohl Verse von großer Harmonie und Schönheit gelangen; Claude de Vaugelas, der die unpedantische Klarheit des Ausdrucks allein von der Sprachverwendung gebildeter Hofleute und deren Absegnung durch gute Schriftsteller herleitete; Jean Chapelain, 1634 erster Inhaber des siebten Sessels der Académie française, ebenso gelehrter wie gefürchteter Kritiker, grässlicher Dichter, aber bedeutender Literaturtheoretiker; die gefeierte Sängerin und Tänzerin Angélique Paulet, die ihr Publikum immer zutiefst anrührte, und schließlich die Seele des Salons, Vincent Voiture, wegen seiner geringen Körpergröße »der kleine König« genannt, ein humanistisch gebildeter Plauderer, der wie viele in seiner Umgebung mittelalterliche Ritterromane las und in altfranzösischer Sprache korrespondierte, dem kein Anlass zu gering war, um ihn nicht mit Madrigalen oder Rondeaux, mit Sonetten oder Epigrammen zu begleiten. Er war der Typus der Salons schlechthin, in denen das literarische Spiel, die stilistische Improvisation, eine Kultur der Mündlichkeit entstehen ließ, die auf Witz, Geistesgegenwart und Reaktionsfähigkeit gegründet war. Diese Besonderheit des literarischen Salons war zugleich Bedingung seiner viel weiter reichenden emanzipatorischen Wirkungsmöglichkeit: Frauen, vielfach in ihren Ausbildungs- und Lektürewünschen behindert, konnten über den mündlichen Austausch mit literarischen Formen und Inhalten in Berührung kommen, die sie zu eigenem schriftlichen Ausdruck ermutigten und befähigten.
 
Den Gesellschaftsspielen der Gleichberechtigung, denen man sich in den Salons widmete, lieferte neben den Ritterromanen Honoré d'Urfés »L'Astrée« die methodische und inhaltliche Handlungsanweisung, einmal als unmittelbarer Gegenstand von Wissensprüfungen, zum anderen als Brevier eines verinnerlichten, ritualisierten und den höfischen Liebesvorstellungen des Mittelalters angenäherten Umgangs der Geschlechter miteinander, wie sie die »Carte de Tendre« abbildet. Die moralphilosophischen Gespräche und liebespsychologischen Erörterungen in d'Urfés Roman lieferten gewissermaßen das Modell der Salondiskussionen, die sich auf alle Gebiete des Wissens bezogen. Sie drücken ein neues Selbstverständnis des politisch zunehmend bedeutungsloseren Adels aus, sie sind in ihrer verfeinerten Art kostbar, »précieux«, ein Begriff, der durch Molières Komödie »Die lächerlichen Preziösen« und deren zickige Umschreibungssucht zur Vermeidung konkreter Benennungen zumeist nur mit seinen negativen Bedeutungsnuancen verwandt wird. Dabei ist die Preziosität der Salons, etwa der Marquise de Rambouillet oder der Mademoiselle de Scudéry, von hohem emanzipatorischem Ernst, vernunftgeprägt im Sinne Descartes', analytisch um die Klärung von menschlichen Verhaltensweisen und deren verborgenen Beweggründen bemüht. Dass ein La Rochefoucauld in einem solchen geistigen Umfeld, hier dem Salon seiner Gesprächspartnerin und Anregerin, der Marquise de Sablé, seine desillusionierenden Sentenzen verfasste, kann schlüssigerweise nicht überraschen. Man hat die Preziosität als eine der Spielarten des europäischen Manierismus »Versuchung des Barock« genannt, mit gleichem Recht besteht jedoch auch ihre Deutung als »weibliche Aufklärung«, die der männlichen des 18. Jahrhunderts vorausging. Ihre selbstbewusste Privatheit musste allerdings in einem Zeitalter rationaler Regulierung des gesamten Lebens Misstrauen erwecken. Literarische Klassik und politische Zentralgewalt lassen die Emanzipation der Frau, die sich in der Salonkultur des 17. Jahrhunderts ausdrückte, jedoch nur scheinbar in den Fluchträumen der Feenmärchen (»Contes de feés«) verschwinden, die Madame d'Aulnoy vor ihrer Veröffentlichung in ihrem Salon erzählte. In der Öffentlichkeit gewannen weibliche Äußerungen und weibliches Engagement besonders seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend an Intensität.
 
Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange
 
 
Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Beiträge von Wolfgang Beutin u. a. Stuttgart u. a. 51994.
 
Französische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a. 31994.

Universal-Lexikon. 2012.

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